2022年7月31日日曜日

Klavierwerk II (Vierhändige Werke Und Werke Für Zwei Klaviere) by Igor Stravinsky; Alfons Kontarsky; Aloys Kontarsky WERGO (WER 60 003) Publication date 1963

 IGOR STRAWINSKY

Trois Pieces Faciles


Cinq Piéces Faciles


Concerto per due pianoforti soli

Sonata for two pianos

Im Gegensatz zu den zweihandigen Klavierwerken Igor Stra-

winskys, die in der Hauptsache dem Neoklassizismus zuzu-

rechnen sind, gehéren die vierhandigen und zweiklavierigen

Kompositionen allen drei Perioden seines Schaffens an: die

»Trois piéces faciles*, ebenso die ,,Cinq piéces faciles* der

russischen, das ,,Concerto per due pianoforti“ soli der fran-

seg und die Sonata for two pianos“ der amerikanischen

‘eit.

Mit den Klavierstiicken fiir vier Hande von 1915 hat Strawinsky

Meisterwerke kammermusikalischer Kleinkunst geschrieben, in

denen zum groBen Teil traditionelle musikalische Formen pa-

rodiert werden. ,In ihnen iiberschneiden sich die ironisieren-

den Tendenzen der anbrechenden Neuzeit mit der schlichten,

klanggesattigten und wohllautenden Ausdrucksfille, wie sie vom

RuBland des 19. Jahrhunderts her die europdische Musikge-

schichte eine zeitlang bestimmte - nur da® die musikalische

Satire niemals so organisch und voll wehmitigen Riickerin-

nerns an eine nicht mehr statthafte Musiziervorstellung in die

zu Oberwindenden Ausdrucksformen aus der Tradition des 19.

Jahrhunderts eingeschmolzen wurden wie hier durch Stra- |

winsky. - Bewu8te grammatikalische Fehlbeziige, eine gekonnt

eigenartig-verschroben wirkende musikalische Logik sind die

geheim technischen Mittel, mit denen zum Lachen gereizt wird

und hinter denen sich vielleicht doch nur verschwiegene

Liebe zu einem Gberkommenen Stil verbirgt, der nicht mehr

gefragt sein darf, sondern nur noch in der wehmiitigen Riick-

erinnerung mit einem leichten Anflug von Sentimentalitat be-

schworen werden kann“ (Helmut Kirchmeyer). Nach Heinrich

Strobel sind alle Sticke ,keine Versuche in musikalischer

Parodie, sondern wesenhafte Inkarnationen der verschiedenen

musikalischen Formen.”

Gleich, welcher Interpretation der beiden Klavier-Rollen man

den Vorrang gibt, auf jeden Fall ging es Strawinsky hier um

die Lésung eines rein technischen Problems: diese Musik

sollten ein Anfanger und ein Fortgeschrittener zusammen spie-

len k6nnen. Deshalb ist in den ,Trois piéces faciles“ der

Secondo-Part, in den ,Cinq piéces faciles“ der Primo-Part

sehr leicht gehalten. Die anderen Parte jeweils enthalten dafiir

groBe technische Schwierigkelten.

Erst 1935 schrieb Strawinsky eine neue Klavierkomposition fir

zwel Spleler: das Concerto per due planoforti soli“. Stra-

winsky selbst und sein zweitdltester Sohn Swiatoslaw Soulima |

waren die ersten Interpreten des Werkes (Urauffihrung am

21. November 1935 in der Pariser Salle Gaveau).

Bel der Komposition des ,,Concerto" ging Strawinsky von der

Konzeption aus, alle nur denkbaren technischen Méglichkeiten

des Klaviers zu nutzen, dabei gleichzeitig den Klang beider

Instrumente so miteinander zu verschranken, daB sie wie ein

einziges wirkten. Diesem Ziel sollten weder formale, struk-

turelle noch sonstige Griinde (z. B. die in vierhandigen Kla-—

vierwerken oft angestrebten Kombination von Schwer-Leicht,

bei der ein Part groBe technische Schwieriakeiten enthalten

sollte, der andere aber aus diesem Grunde in der Virtuositat

weit zuriickbleiben muBte) entgegenstehen.

Den charakteristischen Martellato-Klang des ..Concerto” fihrte

Robert Siohan auf Strawinskys frilhere Leidenschaft fir das

ungarische Zimbal zuriick. (Das Zimbal gleicht dem alten Hack-

brett, einem Zitherinstrument, dessen Saiten mit Hammerchen

angeschlagen werden und das sich gegen Ende des 17. Jahr-

hunderts durch ResonanzvergréBerung und Aufnahme von

Tastaturen zum Clavizimbe! welterentwickelt hatte.) Allerdings

war Strawinsky schon 1915 auf dieses Instrument aufmerksam

geworden, und es Ist wenig wahrscheinlich, da8 er noch

zwanzig Jahre spater den Zimbalklang auf das Klavier trans-

ponieren wollte. Viel eher liegt das Concerto" mit seiner

spezifischen Klangstruktur auf einer Linie, die mit Hindemiths

»Sulte 1922" begann und die den Klavierklang als Schlag-

zeugklang sehen wollte. So lassen sich die auffallenden stan-

digen Tonrepetitionen und Tremoli als Ergebnis einer neuen

Anschauung vom Klavierklang erklaren.

Dem ,,Concerto“ liegen also insgesamt drei Forderungen zu-

grunde, die eine einzigartig selbstverstandliche Erfillung fan-

den: Ausniitzung aller technischen und klanglichen Méglich-

keiten des Klaviers, Verbindung zweier Klavierparte zu einer

organischen Einheit und Verfremdung des Klaviers als eine

interessante Art von Schlagzeug" (Hindemith!). Dem entspre-

chen die Verwendung aller nur bekannten Anschlags- und

Spielformen bis zu eruptiven Glissandi, die intensive konstruk-

tive Verknipfung des thematischen Materials und der Mar-

tellato-Klang.


Wahrend in der ,Sonata for two pianos“ streckenweise einem

der beiden das Hauptgewicht zufalit, ist hier in keinem Augen-

blick ein Part ohne den anderen denkbar. Strawinsky erreichte

die Vereinheitlichung des Klangs, indem er z. B. einzeine

Téne eines Thementeils zwischen den beiden Klavieren auf-

teilte. Die Themen verlaufen deshalb mitunter so kompliziert,

daB es nédtig wurde, die motivischen Zusammenhange durch

quer durch die Systeme laufende Striche, Betonungszeichen

und andere Mitte! anzudeuten, um interpretatorische MiBver-

standnisse zu vermeiden. Damit wurde die klangliche Einheit

auch im Schriftbild des Concerto“ deutlich.


Trotz aller graphischen Verdeutlichung der strukturellen Ver-

bindungen bleibt eine Analyse des Werkes ungemein schwie-

rig. Wie in einem Zusammensetzspiel kann hier jeder Themen-

teil neben jeden anderen riicken, auBerdem erklingt das

Thema des Concerto“ erst mit dem Einsatz der Fuge im

vierten Satz. Bis dahin erscheinen nur Splitter und Bruch-

stiicke, die immer wieder variiert werden, bis sich dann als

Ergebnis ihrer vielfaltigen Kombination das Thema nach und

nach herausschalt. Strawinsky hat also den Begriff ,,Variation“

im ,Concerto“ spezifisch abgewandelt, indem er den einzel-

nen Variationen das Thema nicht voranstellte, sondern es erst

allmahlich aus ihnen herauszog.


Im Anfangssatz ,Con moto" erscheinen nur die ersten finf

Téne des Themas: d und e in den Oberstimmen des 2. Takts

Beispiel 2: Die ersten drei Takte aus der Il. Variation des

Concerto

in vertauschter Lage (Bsp. 1), sechzehn Takte spater h, cis

und d. Nach einem lyrischen ,,Notturno“, das oft als ein Héhe-

punkt des Neoklassizismus bezeichnet wird, tritt im 3. Satz

mit seinen vier Variationen das Thema zum erstenmal voll-

standig auf, allerdings noch nicht in endgiltiger Rhythmisie-

rung. Die einzelnen Variationen lassen sich deutlich unter-

scheiden: ,,Die |. Variation arbeitet mit Vorschlagen und wei-

ten Ornamenten, die I. mit wirkungsvollen Glissandi, in die

sich das Thema schon deutlich erkennbar einbettet (Bsp. 2).

Variation III 1&Bt das Thema geschickt zwischen den beiden

Klavieren hin und her wandern, wobei Strawinsky die Noten

des Themenkopfes mit quer durch die Systeme gezogenen

Strichen kennzeichnet (Bsp. 3). Die letzte Variation endlich fihrt

zu Komplementkonstruktionen zwélfténiger Klangblécke, die

sich genau ausbalancieren, aber noch nicht auf strukturelle

Zwolftonigkeit abgestelit sind (Bsp. 4.). Die grdBte geistige

Intensitat ausgespartester Verdichtung strahlt das Thema im

recht kurzen Fugenpraludium aus, nach dem dann unter dem

Tremolo des ersten Klaviers sofort mit Beginn des ,Fuge a 4

voci’ das Thema in seiner endgiltigen Gestalt gewonnen wird"

(Helmut Kirchmeyer).


Die ,Sonata for two pianos“ ist Strawinskys letztes zweikla-

vieriges Werk. (Urauffiihrung mit Nadia Boulanger und dem

Komponisten 1944 in Madison/Wisconsin.) Die Analyse zeigt,

daB Strawinskys Klaviersatz nie konzentrierter und formal aus-

kalkulierter war als hier. Helmut iKrchmeyer: ,,Die Sonata’ er-

scheint wie ein glaserner Motor, dessen einzelne Funktionen

in jedem Augenblick sichtbar bleiben; aber obwohl Strawinsky

nie eine konstruiertere Klaviermusik geschrieben hat, enthillt

sich diese zugleich als seine gesanglichste und melodischste

klavieristische Schdpfung."


Wahrend Strawinsky im ,Concerto" die Konzertpraxis - zwei

verschiedene Klangkérper, Klavier und Orchester, zu einer

Einheit zu verbinden - auf zwei Tasteninstrumente Ubertrug, ar-

beitete er in der ,Sonata" mit den Prinzipien der vierhandi-

gen Klavierkomposition, namlich mit Klangfeldern, die im Um-

fang festgelegt sind (auf vier Oktaven meist, wenn man von

Oktawerdoppelungen absieht). Dem ersten Klavier werden die

hohen Register, dem zweiten die tiefen Register zugeordnet;

Oberschneidungen ergeben sich nur selten.


Dem 1, Satz ,Moderato“ liegt folgende formale Gliederung

zugrunde: zwei Hauptabschnitte (von denen der erste noch-

mals in A + B, der zweite in A‘ + BY‘ unterteilt ist) werden

durch einen Zwischenteil miteinander verbunden. Dieses Sche-

ma laBt sich verschieden deuten. Einmal verweisen die vor-

herrschendsten Tonarten auf eine einfache Spiegelform, wobei

der Mittelteil die Achse bilden wiirde:


Teil A - F-Dur Teil A‘ - C-Dur


Teil B_ - C-Dur Teil B‘ - F-Dur

Mittelteil - E-As-Dur


Eine zweite Version ergibt sich, wenn man die Teile A + B

als Exposition, A‘ + B‘ als Reprise und den Mittelteil als

Durchfilhrung bezeichnet und die Wiederholungszeichen am

Ende der Exposition streng beachtet. Das Ergebnis ware ein

zweiteiliger Sonatensatz: (Exposition -++ Wiederholung) +

(DurchfOhrung + Reprise). Und genau dieser Gliederung ent-

Beispiel 3: Aus der Ill. Variation des Concerto: SchluB von

Takt 63 und Takt 64.

Beispiel 4: Takte drei u. vier aus der IV. Variation des Concerto

Spricht auch die Innere Struktur des ,Moderato’. So dGauern

z. B. die drei groBen Abschnitte des Satzes - Exposition,

Durchfiihrung und Reprise - 65 1/2, 40 und 82 1/2 Schlage.

Diese scheinbare Asymmetrie hebt sich sofort auf, wenn man

wieder die Wiederholungszeichen nach der Exposition mit ein-

berechnet. Dann erhalt man namlich fir Exposition + Wieder-

holung und fiir Durchfiihrung + Reprise die Dauern 131 bzw.

122 1/2 Schlage. Die geringe Differenz fallt dabei wohl kaum

ins Gewicht. Zudem wurde nachgewiesen, daB dieser Satz bis

in die letzte thematische Struktur zweiteilig angelegt ist. Dies

zu zeigen, muB einer ausfiihrlicheren Analyse vorbehalten

bleiben.


Im 2. Satz folgen dem Thema vier Figuralvariationen von fast

feierlichem Ausdruck. Den Schlu8 des Werkes bildet ein un-

problematisches Finale, ein leichtes ,,Allegretto“ mit Anklan-

gen an russische Folklore.


Fir den klanglichen Aufbau der ,Sonata" hat Roman Vlad den

Ausdruck ,,Polydiatonik" gepragt. Die Begriffe Konsonanz und

Dissonanz sind hier gegenstandslos geworden, an ihre Stelle

tritt die ,Assonanz“, das Nebeneinanderklingen. Die Harmo-

nik in der ,,Sonata“ ist durchaus spannungslos; allein die Be-

wegung der thematischen Linien erzeugt Spannungsdifferen-

zen. In diesen statischen Klangfeldern verliert die Agogik fast

jede Bedeutung; um so wichtiger wird die Anschlagsqualitat.

Roman Viad sieht die Sonata“ am Beginn einer Entwicklung,

die bei Strawinsky zur Reihentechnik Anton Webers fihrte.

Denn nur in der Dodekaphonie scheint eine Konstruktivitat

Uber die ,Sonate” hinaus noch méglich. Manfred Reichert


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