IGOR STRAWINSKY
Trois Pieces Faciles
Cinq Piéces Faciles
Concerto per due pianoforti soli
Sonata for two pianos
Im Gegensatz zu den zweihandigen Klavierwerken Igor Stra-
winskys, die in der Hauptsache dem Neoklassizismus zuzu-
rechnen sind, gehéren die vierhandigen und zweiklavierigen
Kompositionen allen drei Perioden seines Schaffens an: die
»Trois piéces faciles*, ebenso die ,,Cinq piéces faciles* der
russischen, das ,,Concerto per due pianoforti“ soli der fran-
seg und die Sonata for two pianos“ der amerikanischen
‘eit.
Mit den Klavierstiicken fiir vier Hande von 1915 hat Strawinsky
Meisterwerke kammermusikalischer Kleinkunst geschrieben, in
denen zum groBen Teil traditionelle musikalische Formen pa-
rodiert werden. ,In ihnen iiberschneiden sich die ironisieren-
den Tendenzen der anbrechenden Neuzeit mit der schlichten,
klanggesattigten und wohllautenden Ausdrucksfille, wie sie vom
RuBland des 19. Jahrhunderts her die europdische Musikge-
schichte eine zeitlang bestimmte - nur da® die musikalische
Satire niemals so organisch und voll wehmitigen Riickerin-
nerns an eine nicht mehr statthafte Musiziervorstellung in die
zu Oberwindenden Ausdrucksformen aus der Tradition des 19.
Jahrhunderts eingeschmolzen wurden wie hier durch Stra- |
winsky. - Bewu8te grammatikalische Fehlbeziige, eine gekonnt
eigenartig-verschroben wirkende musikalische Logik sind die
geheim technischen Mittel, mit denen zum Lachen gereizt wird
und hinter denen sich vielleicht doch nur verschwiegene
Liebe zu einem Gberkommenen Stil verbirgt, der nicht mehr
gefragt sein darf, sondern nur noch in der wehmiitigen Riick-
erinnerung mit einem leichten Anflug von Sentimentalitat be-
schworen werden kann“ (Helmut Kirchmeyer). Nach Heinrich
Strobel sind alle Sticke ,keine Versuche in musikalischer
Parodie, sondern wesenhafte Inkarnationen der verschiedenen
musikalischen Formen.”
Gleich, welcher Interpretation der beiden Klavier-Rollen man
den Vorrang gibt, auf jeden Fall ging es Strawinsky hier um
die Lésung eines rein technischen Problems: diese Musik
sollten ein Anfanger und ein Fortgeschrittener zusammen spie-
len k6nnen. Deshalb ist in den ,Trois piéces faciles“ der
Secondo-Part, in den ,Cinq piéces faciles“ der Primo-Part
sehr leicht gehalten. Die anderen Parte jeweils enthalten dafiir
groBe technische Schwierigkelten.
Erst 1935 schrieb Strawinsky eine neue Klavierkomposition fir
zwel Spleler: das Concerto per due planoforti soli“. Stra-
winsky selbst und sein zweitdltester Sohn Swiatoslaw Soulima |
waren die ersten Interpreten des Werkes (Urauffihrung am
21. November 1935 in der Pariser Salle Gaveau).
Bel der Komposition des ,,Concerto" ging Strawinsky von der
Konzeption aus, alle nur denkbaren technischen Méglichkeiten
des Klaviers zu nutzen, dabei gleichzeitig den Klang beider
Instrumente so miteinander zu verschranken, daB sie wie ein
einziges wirkten. Diesem Ziel sollten weder formale, struk-
turelle noch sonstige Griinde (z. B. die in vierhandigen Kla-—
vierwerken oft angestrebten Kombination von Schwer-Leicht,
bei der ein Part groBe technische Schwieriakeiten enthalten
sollte, der andere aber aus diesem Grunde in der Virtuositat
weit zuriickbleiben muBte) entgegenstehen.
Den charakteristischen Martellato-Klang des ..Concerto” fihrte
Robert Siohan auf Strawinskys frilhere Leidenschaft fir das
ungarische Zimbal zuriick. (Das Zimbal gleicht dem alten Hack-
brett, einem Zitherinstrument, dessen Saiten mit Hammerchen
angeschlagen werden und das sich gegen Ende des 17. Jahr-
hunderts durch ResonanzvergréBerung und Aufnahme von
Tastaturen zum Clavizimbe! welterentwickelt hatte.) Allerdings
war Strawinsky schon 1915 auf dieses Instrument aufmerksam
geworden, und es Ist wenig wahrscheinlich, da8 er noch
zwanzig Jahre spater den Zimbalklang auf das Klavier trans-
ponieren wollte. Viel eher liegt das Concerto" mit seiner
spezifischen Klangstruktur auf einer Linie, die mit Hindemiths
»Sulte 1922" begann und die den Klavierklang als Schlag-
zeugklang sehen wollte. So lassen sich die auffallenden stan-
digen Tonrepetitionen und Tremoli als Ergebnis einer neuen
Anschauung vom Klavierklang erklaren.
Dem ,,Concerto“ liegen also insgesamt drei Forderungen zu-
grunde, die eine einzigartig selbstverstandliche Erfillung fan-
den: Ausniitzung aller technischen und klanglichen Méglich-
keiten des Klaviers, Verbindung zweier Klavierparte zu einer
organischen Einheit und Verfremdung des Klaviers als eine
interessante Art von Schlagzeug" (Hindemith!). Dem entspre-
chen die Verwendung aller nur bekannten Anschlags- und
Spielformen bis zu eruptiven Glissandi, die intensive konstruk-
tive Verknipfung des thematischen Materials und der Mar-
tellato-Klang.
Wahrend in der ,Sonata for two pianos“ streckenweise einem
der beiden das Hauptgewicht zufalit, ist hier in keinem Augen-
blick ein Part ohne den anderen denkbar. Strawinsky erreichte
die Vereinheitlichung des Klangs, indem er z. B. einzeine
Téne eines Thementeils zwischen den beiden Klavieren auf-
teilte. Die Themen verlaufen deshalb mitunter so kompliziert,
daB es nédtig wurde, die motivischen Zusammenhange durch
quer durch die Systeme laufende Striche, Betonungszeichen
und andere Mitte! anzudeuten, um interpretatorische MiBver-
standnisse zu vermeiden. Damit wurde die klangliche Einheit
auch im Schriftbild des Concerto“ deutlich.
Trotz aller graphischen Verdeutlichung der strukturellen Ver-
bindungen bleibt eine Analyse des Werkes ungemein schwie-
rig. Wie in einem Zusammensetzspiel kann hier jeder Themen-
teil neben jeden anderen riicken, auBerdem erklingt das
Thema des Concerto“ erst mit dem Einsatz der Fuge im
vierten Satz. Bis dahin erscheinen nur Splitter und Bruch-
stiicke, die immer wieder variiert werden, bis sich dann als
Ergebnis ihrer vielfaltigen Kombination das Thema nach und
nach herausschalt. Strawinsky hat also den Begriff ,,Variation“
im ,Concerto“ spezifisch abgewandelt, indem er den einzel-
nen Variationen das Thema nicht voranstellte, sondern es erst
allmahlich aus ihnen herauszog.
Im Anfangssatz ,Con moto" erscheinen nur die ersten finf
Téne des Themas: d und e in den Oberstimmen des 2. Takts
Beispiel 2: Die ersten drei Takte aus der Il. Variation des
Concerto
in vertauschter Lage (Bsp. 1), sechzehn Takte spater h, cis
und d. Nach einem lyrischen ,,Notturno“, das oft als ein Héhe-
punkt des Neoklassizismus bezeichnet wird, tritt im 3. Satz
mit seinen vier Variationen das Thema zum erstenmal voll-
standig auf, allerdings noch nicht in endgiltiger Rhythmisie-
rung. Die einzelnen Variationen lassen sich deutlich unter-
scheiden: ,,Die |. Variation arbeitet mit Vorschlagen und wei-
ten Ornamenten, die I. mit wirkungsvollen Glissandi, in die
sich das Thema schon deutlich erkennbar einbettet (Bsp. 2).
Variation III 1&Bt das Thema geschickt zwischen den beiden
Klavieren hin und her wandern, wobei Strawinsky die Noten
des Themenkopfes mit quer durch die Systeme gezogenen
Strichen kennzeichnet (Bsp. 3). Die letzte Variation endlich fihrt
zu Komplementkonstruktionen zwélfténiger Klangblécke, die
sich genau ausbalancieren, aber noch nicht auf strukturelle
Zwolftonigkeit abgestelit sind (Bsp. 4.). Die grdBte geistige
Intensitat ausgespartester Verdichtung strahlt das Thema im
recht kurzen Fugenpraludium aus, nach dem dann unter dem
Tremolo des ersten Klaviers sofort mit Beginn des ,Fuge a 4
voci’ das Thema in seiner endgiltigen Gestalt gewonnen wird"
(Helmut Kirchmeyer).
Die ,Sonata for two pianos“ ist Strawinskys letztes zweikla-
vieriges Werk. (Urauffiihrung mit Nadia Boulanger und dem
Komponisten 1944 in Madison/Wisconsin.) Die Analyse zeigt,
daB Strawinskys Klaviersatz nie konzentrierter und formal aus-
kalkulierter war als hier. Helmut iKrchmeyer: ,,Die Sonata’ er-
scheint wie ein glaserner Motor, dessen einzelne Funktionen
in jedem Augenblick sichtbar bleiben; aber obwohl Strawinsky
nie eine konstruiertere Klaviermusik geschrieben hat, enthillt
sich diese zugleich als seine gesanglichste und melodischste
klavieristische Schdpfung."
Wahrend Strawinsky im ,Concerto" die Konzertpraxis - zwei
verschiedene Klangkérper, Klavier und Orchester, zu einer
Einheit zu verbinden - auf zwei Tasteninstrumente Ubertrug, ar-
beitete er in der ,Sonata" mit den Prinzipien der vierhandi-
gen Klavierkomposition, namlich mit Klangfeldern, die im Um-
fang festgelegt sind (auf vier Oktaven meist, wenn man von
Oktawerdoppelungen absieht). Dem ersten Klavier werden die
hohen Register, dem zweiten die tiefen Register zugeordnet;
Oberschneidungen ergeben sich nur selten.
Dem 1, Satz ,Moderato“ liegt folgende formale Gliederung
zugrunde: zwei Hauptabschnitte (von denen der erste noch-
mals in A + B, der zweite in A‘ + BY‘ unterteilt ist) werden
durch einen Zwischenteil miteinander verbunden. Dieses Sche-
ma laBt sich verschieden deuten. Einmal verweisen die vor-
herrschendsten Tonarten auf eine einfache Spiegelform, wobei
der Mittelteil die Achse bilden wiirde:
Teil A - F-Dur Teil A‘ - C-Dur
Teil B_ - C-Dur Teil B‘ - F-Dur
Mittelteil - E-As-Dur
Eine zweite Version ergibt sich, wenn man die Teile A + B
als Exposition, A‘ + B‘ als Reprise und den Mittelteil als
Durchfilhrung bezeichnet und die Wiederholungszeichen am
Ende der Exposition streng beachtet. Das Ergebnis ware ein
zweiteiliger Sonatensatz: (Exposition -++ Wiederholung) +
(DurchfOhrung + Reprise). Und genau dieser Gliederung ent-
Beispiel 3: Aus der Ill. Variation des Concerto: SchluB von
Takt 63 und Takt 64.
Beispiel 4: Takte drei u. vier aus der IV. Variation des Concerto
Spricht auch die Innere Struktur des ,Moderato’. So dGauern
z. B. die drei groBen Abschnitte des Satzes - Exposition,
Durchfiihrung und Reprise - 65 1/2, 40 und 82 1/2 Schlage.
Diese scheinbare Asymmetrie hebt sich sofort auf, wenn man
wieder die Wiederholungszeichen nach der Exposition mit ein-
berechnet. Dann erhalt man namlich fir Exposition + Wieder-
holung und fiir Durchfiihrung + Reprise die Dauern 131 bzw.
122 1/2 Schlage. Die geringe Differenz fallt dabei wohl kaum
ins Gewicht. Zudem wurde nachgewiesen, daB dieser Satz bis
in die letzte thematische Struktur zweiteilig angelegt ist. Dies
zu zeigen, muB einer ausfiihrlicheren Analyse vorbehalten
bleiben.
Im 2. Satz folgen dem Thema vier Figuralvariationen von fast
feierlichem Ausdruck. Den Schlu8 des Werkes bildet ein un-
problematisches Finale, ein leichtes ,,Allegretto“ mit Anklan-
gen an russische Folklore.
Fir den klanglichen Aufbau der ,Sonata" hat Roman Vlad den
Ausdruck ,,Polydiatonik" gepragt. Die Begriffe Konsonanz und
Dissonanz sind hier gegenstandslos geworden, an ihre Stelle
tritt die ,Assonanz“, das Nebeneinanderklingen. Die Harmo-
nik in der ,,Sonata“ ist durchaus spannungslos; allein die Be-
wegung der thematischen Linien erzeugt Spannungsdifferen-
zen. In diesen statischen Klangfeldern verliert die Agogik fast
jede Bedeutung; um so wichtiger wird die Anschlagsqualitat.
Roman Viad sieht die Sonata“ am Beginn einer Entwicklung,
die bei Strawinsky zur Reihentechnik Anton Webers fihrte.
Denn nur in der Dodekaphonie scheint eine Konstruktivitat
Uber die ,Sonate” hinaus noch méglich. Manfred Reichert
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